Vor 100 Jahren kommentierte Gertrud Bäumer die Chancen und Hürden von Frauen in der parlamentarischen Arbeit.
von Sabine Hering
Gertrud Bäumer, eine der Gallionsfiguren der bürgerlichen Frauenbewegung im Kaiserreich, war ab 1919 Abgeordnete der Liberalen in der Weimarer Nationalversammlung, danach im Deutschen Reichstag. In einem ebenso klaren wie kritischen Ton beschreibt sie in dem Essay „Die erste Phase des Frauenstimmrechts in Deutschland – eine Wertung“ die Erfahrungen, die sie und viele der weiteren 48 Parlamentarierinnen damals gemacht haben.
„Viele neue Abgeordnete sind im Februar 1919 in die Nationalversammlung mit dem Gefühl eingetreten, an den Fundamenten einer neuen Ordnung der Dinge aus einem neuen Geist arbeiten zu wollen. Diesen Willen hat die parlamentarische Erfahrung sehr bald, wenn nicht erschüttert, so doch geknickt.“
Wie kam das? „Die Frauen mussten zunächst die Erfahrung, machen, daß das Parlament nicht die Stelle für schöpferische Politik ist. Das Parlament ist eine Instanz der Kontrolle und Kritik. Es bekommt die Vorlagen der Regierung und hat sie durchzuarbeiten – zu prüfen, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Wirkungen nach dieser oder jener Richtung, der Berücksichtigung dieser oder jener Interessen. … Diese Arbeit ist Kleinarbeit – von Paragraph zu Paragraph nachprüfend, verbessernd, ergänzend.“
Das Ergebnis dieser Arbeit wird von Bäumer überaus kritisch bewertet: „Was schließlich beschlußreif wird, ist unter keinen Umständen mehr der schöpferische Gedanke der einzelnen, sondern ein von den verschiedensten Seiten her immer wieder von neuem gestutztes Notprodukt.“
Sie hat die Erfahrung gemacht, welche Techniken die Frauen beherrschen müssen, wenn sie im Parlament wirklich etwas bewegen wollen: „Aus dem Wesen der parlamentarischen Arbeit ergibt sich auch die Macht des »ewig Gestrigen«. Es ergibt sich eine Zwangsläufigkeit, die sich aus Gewohnheit, Beharrung und Mechanik zusammensetzt. Es ist unmöglich, diesen Apparat mit Neuem zu überrumpeln. Will man Eigenes durchsetzen, so geht es nur durch sicherste Beherrschung der parlamentarischen Technik, die nicht schnell erworben werden kann.“
„Wir haben uns deshalb zuerst sehr zurückhaltend dem »Betrieb« eingefügt. Bei aller leisen Verwunderung, ja Skepsis gegenüber vielem an dieser Gesetzesmaschine, das unvollkommen, schwerfällig und zwecklos erschien, mußte man sich sagen, daß man als Neuling den Sinn und die Tragweite dieser oder jener Praxis nicht übersehen konnte, und zuerst einmal abwarten mußte. Vielleicht ist es vielen meiner Kolleginnen so gegangen, daß sie hinterher die Vorsicht, die sie sich in diesem oder jenem Fall auferlegten, bereuen konnten, weil sich herausstellte, daß sie mit der zurückgehaltenen Meinung recht gehabt hätten.“
Soweit die realistische Beschreibung der Grenzen parlamentarischer Arbeit und ihrer Besonderheiten. Bäumer sieht aber gleichzeitig sehr genau, wo der Hebel für eine erfolgreiche Einflussnahme der Frauen liegen könnte. Das ist zum einen die über die Grenzen der Fraktionen hinausgehende Zusammenarbeit: die nicht gerne gesehen wird, weil auch die Frauen in der Regel dem Fraktionszwang unterliegen. Bäumer hält diesen Zusammenschluss der Parlamentarierinnen aber für unerlässlich bei der Durchsetzung frauenpolitischer Forderungen.
Sie sieht aber auch gewisse Chancen darin, bei der eigenen Partei für weibliche Interessen zu werben: „Allerdings fällt das den Frauen nicht ohne weiteres in den Schoß. Es muß innerhalb der Fraktionen erkämpft werden. Aber der Kampf – das ergibt das Schwergewicht der weiblichen Wählerschaft – wird meist siegreich sein, wenigstens in dem Maße, als in den Parteien der demokratische Gedanke mächtig ist.“
Damit betont Bäumer den aus ihrer Sicht entscheidenden Hebel zur Durchsetzung frauenpolitischer Ziele, denn die Macht der Parlamentarierinnen fußt nicht zuletzt auf der Zahl der Wählerinnen, die ihnen beim nächsten Urnengang die Stimme geben. Dass es nicht so einfach ist, als Abgeordnete die eigenen Verdienste den Wählerinnen gegen über zu vermitteln, weiß Bäumer durchaus: „Die Arbeit der weiblichen Abgeordneten läßt sich als solche so wenig aus dem Gesamtorganismus der parlamentarischen Arbeit lösen, wie die Arbeit des einzelnen Abgeordneten überhaupt.“
Die zwei wichtigsten Botschaften Bäumers – so scheint es – verweisen deshalb zum einen auf die Schlagkraft überfraktioneller Frauenbündnisse; zum anderen auf die Bedeutung lauter und vernehmlicher Auftritte, Forderungen und Bekenntnisse der weiblichen Abgeordneten, um unmissverständlich klar zu machen, wofür sie eingetreten sind und eintreten werden.
Ich möchte abschließend nochmal daran erinnern: Gertrud Bäumer schreibt nicht über das Jahr 2023, sondern den Übergang von der Nationalversammlung zum Deutschen Reichstag der Weimarer Republik. In den über 100 Jahren seither, scheint sich nicht wirklich Wesentliches verändert zu haben.